Dieses Blog durchsuchen

Donnerstag, 21. Juli 2011

Nordsydbanen 1936


Die Oberfläche, schrieb ich gestern angesichts des Wasserspiegels des dunklen Sees, die zu durchdringen um die Liebe zu erkennen uns Kierkegaard vergeblich mühen sieht, die uns aber nur unser eigenes Spiegelbild zurückwerfe, diese Oberfläche – so schrieb nun C., die ich in Svanemøllen sah, über Rodin – ist nun gleichzeitig das Nächste, was wir haben können und fürchten … müssen.

Wolfgang Hilbig zieht sich durch diesen Tag, in der letzten Stunde mit V.H., jener Analytikerin, die zu verlassen eines meiner Freiheitsprojekte ist, ein Vorhaben, dem ich verdanke, mit einer ganz frühen Ambivalenz in Kontakt zu bleiben, in der letzten Stunde vor einer lediglich vierwöchigen Trennung schweigen wir plötzlich, und eine Weile kommt es mir vor wie ein Abschied für immer. Erst spät fällt mir ein, daß wir einander nicht verlassen haben, und ich lächele – worauf sie nachfragt, und ich ihr nicht sage, was meine Gewissheit war in diesem Moment, sondern von Hilbig sprach, der früh beschrieb, was ihn zu Tode bringen werde, und sein verbleibendes Leben brauchte, ins Werk zu setzen, ohne zu berühren, was männliche Zerstörung, vielleicht einmal Gegengewalt, auch anrichten kann im Körper selbigen Mannes. Es reicht, dazu Natascha Wodins Buch zu lesen, das weiblicher Langmut ein hohes Zeugnis ausstellt, und ihr hoffentlich genug Kraft zum Leben übrig ließ. Noch immer möchte ich dazu mit Mai Wegener sprechen, deren Hilbig-Vortrag mich berührt wie sprachlos gemacht hatte.

Die Städte, in denen ich mich arbeits- und aufnahmefähig fühle – daß ich eine Großstadt sogar lieben könnte, habe ich bisher nur einmal in Kopenhagen geglaubt – reihen sich wieder auf eine Nord-Süd-Linie ein – København/Berlin/Praha/Brno/Wien/Lubljana.Triest/Nicosia/Tel-Aviv/Jerusalem – fast fehlt mir der Mut, auch noch Sanaa hinzuzufügen, denn dort war ich nur eine einzige Woche. Ausgerechnet Carsten Mews hat das schon einmal so gesagt. Währenddessen stagnieren die Ost-West-Verbindungen wiederholt: Geld für Alexander Solopovs Flugticket aus Moskau liegt bereit, kann aber nicht zugestellt werden. Ich fliege ins Frankfurter Ostend viele Male, ohne die mindeste Spur zu hinterlassen. Meine lieben Kollegen in Quedlinburg und Kassel sind krank gewordem, Göttingen ohne Nachricht, Angst vor Bonn und der andere Rheinseite überhaupt, Schwächeanfälle in diesem notorischen Frankfurt-Sprinter der DB.

Am Abend gehe ich noch in die A-Strasse, Antiquariat, auf der Suche nach Rainer Maria Rilkes Rodin-Buch. Bekomme statt dessen ein anderes, von Rodin selbst, das von Kathedralen handelt, aber ausgiebig mit einer Beschreibung der französischen Landschaft beginnt. Dort treffe ich Martin, den ich erst gar nicht erkenne, dann aber mit Handschlag von ganz oben auf der Regalleiter begrüße. Martin hatte mir, in einer zufälligen Begegnung im Supermarkt, von Hilbigs Beerdigung am selben Tag erzählt. Die beiden Jerofejews, die dann noch beredet werden, bleiben, obwohl ich vor Wiedererkennung seufzen muß, Schirm genug, mich mit meinen Einkäufen wortkarg zurück zu ziehen.

Die Berliner Schizoidität scheint mir an einem Tag im übervollen ICE nach Ffm am Samstagmorgen auf dem Weg zu Claudia vollständig klar, als ich des Busfahrertypes, der als Zugchef hier das Sagen hat, ansichtig werde: nicht, daß ich bemängeln will, daß er uns allen ein „good travelling“ wünscht, als er seinen Lautsprecher erreicht hat, aber dann, als er die Zugdestination benennt, spricht er „Baaaasel“ so aus, als sei das irgendwie nicht ernst, unser aller Reisen, etwa als würde zumindest er nicht nach Baaasel via Ffm fahren, als dürften nur wir fahren und er will hier mit seiner Spielzeugeisenbahn noch einmal Spielverderber sein. Als wären wir nicht im Zug, der diagonal einen bedeutenden Teil Deutschlands zu durchqueren sich anschickt, sondern eher, als befänden wir uns noch im Hochbunker Gesundbrunnen, in einer Bombennacht, die schon im Dutzend gezählt wurden 1943. Im Schein der spärlichen Beleuchtung, Schweißgeruch, Ellenbogen, Disziplin, quengelnde Kinder, ein hilflos heiterer Luftschutzwart, sehe ich die Mutter von Detlev Klingenberg dort sitzen, die Detlev, ihrem Sohn, einmal erzählt hatte, wie sie das KZ-Außenlager in der Senefelderstr. im Prenzlauer Berg wiederholt beobachtet hatte, und zu dem Schluß gekommen war: die, die dort sind, und morgens und abends hinaus- und hineingetrieben wurden, die wollen sie nicht leben lassen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen