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Mittwoch, 11. August 2010

Verluste en gros und en detail

Als ich von meinem kleinen Spaziergang, den ich unternahm, ehe ich mit
diesem Blog nun beginne, beinahe schon zurückgekehrt war, zog ich meine
Schlüssel aus der Hosentasche und riß einen kleinen metallischen
Gegenstand mit heraus, der in einem Fußbodengitter im Dunkel verschwand.
Ich werde mir nicht recht einig, was das gewesen ist, was ich da
verloren habe. Es könnte eine Euromünze gewesen sein, die sich aber
eigentlich nicht in der rechten, sondern in der linken Hosentasche hätte
befinden müssen, wie einige andere noch, während ich dies schreibe. Aber
was anderes könnte es gewesen sein? Sollte ich zurückgehen und mit einer
Lampe versuchen, das Objekt des Verlustes in der Tiefe der Fensternische
zu identifizieren suchen? Kann ich damit rechnen, etwas zu sehen, oder
muß ich mit Bewuchs und früheren Fallstücken rechnen, die das aktuelle
Objekt des Verlustes unkenntlich verschwinden lassen? Und für den Fall,
das ich es nicht sehe, was ich verloren habe, müßte ich mich mit der
Hypothese beschäftigen, ich hätte mir das taktile und akustische
Phänomen eines fallenden, etwa münzgroßen metallischen Gegenstandes nur
eingebildet, möglicherweise, weil mit dem Schlüssel eine bereits bei mir
bestehende Verlustphantasie aktiviert wurde? Ich lief erst vor zwei
Wochen eine Stunde ratlos in der Annahme durch einen Teil dieser Stadt, ich hätte meinen Schlüssel verloren, den ich lediglich in der Arbeitstasche vergessen hatte (Tatsächlich hatte ich an diesem Tag die Unterstützung einer Kollegin verloren). Sollte ich daher besser auf weitere Nachforschung verzichten?
Oder kann es einen tröstenden Ersatz für dieses unklare Verlustgefühl
geben? Könnte es helfen, etwas auch noch Unbestimmtes zu schaffen, und
so das unbekannte Objekt des Verlustes zu ersetzen? Könnte es helfen,
mit diesem Blog zu beginnen? Wir werden sehen.
Ich habe als Ausbildungskandidat in den letzten sieben Jahren die
Psychoanalyse trainiert, analyst-in-training heißt es im Englischen, und
sehe meinem Abschluß entgegen. Danach werde ich mich entscheiden und
bemühen, als Analytiker zu arbeiten, das heißt, in eigener Praxis so
weiterzuarbeiten, wie ich es bislang in der Praxis meines
Ausbildungsinstitutes trainiert habe. Für die Analysanten (oder
Patienten) sieht es zunächst wohl so aus, als bestünde da kaum ein
Unterschied, setting und equipment sind das Übliche: zwei Stühle, eine
Couch, plus X, Pflanzen, Bücher, Bilder. Man sieht sich immer zu zweit.
Ein Türschild erscheint beinahe überflüssig, denn die Arbeit dauert über
Jahre, bald wird der Weg sekundär automatisiert, kaum noch wahrgenommen.
Manche Analysanten gehen dennoch, oft nach Monaten, einmal fehl oder
verirren sich auf dem Weg zur Stunde. Das Unbewußte wird agiert, innere
Widerstände versperren den direkten Weg. Und der analytische Kandidat
selbst? Von ihm wird erwartet, den Weg zu finden, den Raum pünktlich dem
Analysanten zu öffnen, beinahe noch wichtiger, wie man sehen wird,
pünktlich zu schließen. Geht er, der Garant des setting, der äußeren
Stabilität, auch einmal fehl? Beinahe schon notorisch der Versuch, die
Tür der Praxisgemeinschaft mit meinem privaten Wohnungsschlüssel
aufzuschließen, wieder der Schlüssel. Schon weniger eine harmlose
Anekdote, eine gewisse Neigung, die Vorfahrt zu erzwingen auf der Fahrt
zur Arbeit, wie, um sich der Fähigkeit, einen Widerstand zu überwinden,
auch unter Risiken zu versichern. Oder die zweite Hälfte der Stunde
einer Analysantin, in der meine Gedanken einzig einer gewissen Tasche
gelten, die ich auf dem Weg zur Stunde in einem Schaufenster gesehen
habe, und die ich nach dem ersehnten Ende zwei Minuten vor Ladenschluß
tatsächlich kaufe, als einen äußerlich in meinem Besitz bis heute
sinnlosen Gegenstand. Aber ich könnte hier zu viel verraten, zu viel
Aufforderung liegt in der Marke open office, unter der mein Text
verarbeitet wird. Ich erinnere mich besser daran, was ich phantasiert
habe, als mir das winzige und recht eigentlich überflüssige Türschild
eines Psychoanalytikers zu wenig wurde: man könnte doch der Sache einen
zugkräftigen Namen geben, der company eine markige Identität. Am
ehesten, soweit war ich schon in meiner grandiosen Phantasie, könnte die
psychoanalytische Kleinfabrik „Verluste en gros und en detail" genannt
werden. Inzwischen weiß ich, es ist keine Fabrik, auch wenn die Idee
einer Fabrik, die Verluste fabriziert, ein Stück weit trägt. Und André
Heller, der Poet des reflektierten Narzißmus, einmal schrieb „der Mensch
ist das, was er verliert, und was ihn deshalb schert". Das Album heißt
„Basta", und gewisse Lokale nennen sich „Zur letzten Instanz" oder,
schon besser, „Zum zerbrochenen Schwan". Durch die Türen dieser Läden
wollen hier aber nicht gehen, bevor wir nicht dem, was wir gerade
verloren haben – was war es nur, dieses euromünzengroße metallische
Objekt, das in die Finsternis der Bordstein-Fensternische gefallen sein
dürfte?

Das Introjekt, der Narzißmus, die Übertragung

Die Artikel sind schon mal richtig, und die Reihenfolge hat auch etwas
zu bedeuten. Ins Unreine: das Web, der Autor, die m/other. Haben Sie
etwas anderes erwartet?
Etwas systematischer möchte ich die Sache von zwei Seiten angehen,
einmal hat die Psychoanalyse Begriffe geprägt, die mir etwas
aufgeschlossen haben, was ohne sie nicht zu gewinnen schien, eine
Markierung von etwas anwesend Abwesendem. Und das scheint mir ein
wichtiges Projekt, das ich am Laufen halten möchte. Das Introjekt
scheint etwas zu sein, was in unserer affektiven Erinnerungsspuren
deutlich anders repräsentiert ist, als in unserem sprachlichen
Erinnerungsvermögen. Sie erinnern sich an meinen heutigen vagen Verlust:
etwas ist mir wohl aus der Tasche gefallen, was sich nicht genau
bestimmen läßt, denn nun ist es verschwunden. Ich kann mich nicht
erinnern, was es war, aber ungefähr, wie es war, ein eurostückgroßer
metallischer Gegenstand. Wäre es ein Euro gewesen, hätte ich es längst
vergessen, abgeschrieben. Die Nähe meines Schlüssels zu dem Mißgeschick
läßt mich Vermutungen anstellen, ob eine andere Verlusterfahrung dafür
sorgt, daß das unbestimmte Verlustgefühl nicht ganz vergeht, sondern
mich weiter beunruhigt. Daß, was am Introjekt keine rationale Erklärung
findet, sucht sich mit anderen unbestimmten – vorsprachlichen –
Erinnerungsspuren zu verbinden, die mit Verlust assoziiert sind. Sie
merken vielleicht hier, daß ich etwas ungelenk formuliere, ich schreibe
in meinem Wohnzimmer, einige Meter entfernt von dem Arbeitszimmer mit
der Bibliothek. Und ich werde mich bemühen, eine Weile nicht bei den
Autoren der Psychoanalyse definitorische Unterstützung zu suchen, weil
ich gern sehen will, ob ich die Begriffe freihändig zum Arbeiten bringen
kann. Und weil ich davon ausgehe, daß die Begriffe ebenfalls zweizeitig
arbeiten, in definitions und in the cloud, um einmal die Sprache der
Hypertextgeneration zu bemühen. Und überhaupt, wie ist es mit dieser
Generation bestellt: sprechen wir eine Sprache? Der Laden, an dem ich
vorhin vorbeiging, offerierte sicherheitshalber in zwei Diskursen seine
Getränke: „Alles auch zum Mitnehmen"// „Alles To Go". Ist es ein Zufall,
daß die zusätzliche Botschaft, die in dem „auch" enthalten ist, in der
Version für die Jüngeren verloren geht? Verlangt das „auch" gar zuviel –
für diese Generation?
Und gerade jetzt fällt mir ein, daß mein Abend ganz anders geplant war,
und ich diesen Spaziergang nur machte, um äußerlich etwas in Bewegung zu
kommen, ich hatte mich am Schreibtisch verspannt. Eigentlich hatte ich
auf meine Freundin gehofft, die sich aber spät mit eigener workload
entschuldigte, aber auch unentschieden und verzagt dabei klang, so daß
ich sie nicht auch noch mit meiner Enttäuschung beladen wollte. Bin ich
eigentlich schon genug analysiert? Sie werden es wissen, ich kenne
solche Räume mit dem Standardequipment plus x, in denen man die gleiche
Person über hunderte Stunden sieht, auch als Analysant, das ist ein
wesentlicher Teil meiner Ausbildungspflichten gewesen, und inzwischen
auch regelmäßig eine pure Lust geworden. Aber wie fühlen Sie sich gerade
– fangen sie an zu gähnen, wo ich die vage Verlusterfahrung bis zu
meiner Freundin und meiner Analytikerin getrieben habe? Also doch eine
simple ödipale Kiste, würden wir in unserem Jargon sagen. Sollte ich
dann Ver/lust schreiben, analog zu dem genialischen und oft genialen
Lacan, der m/other schrieb, weil es sich bei der Mutter um die erste
Andere – und den ersten Verlust im Außen - handelt? Sie müssen zu
Kenntnis nehmen (mich zieht es in die Bibliothek, bevor meine Freundin
anruft, um mir mitzuteilen, daß sie doch noch kommen wird, eine schöne
Phantasie), daß in der Psyche – Zeitschrift für Psychoanalyse in jedem
vierten Artikel seit Jahren davon die Rede ist, daß wir uns mit dem
Ödipalen überfordern, und unsere Patienten dazu, denn oft ist es ein
vorschnelles Begreifen im Dreieck Papa/Mama/gespaltenes Ich, das uns und
die Patienten überfordere und damit eine Überforderung, auf die die
Analysanten als Kinder mit voreiliger „erwachsener" Sexualisierung
reagiert haben, einfach wiederholen. Sie wissen, wovon hier die Rede
ist, das Schlagwort im Jargon heißt „pseudoödipale Strategien". Die
Hysterika leidet größtenteils an Reminiszenzen, so ungefähr Freud, und
versucht, die damit verbundene Erregung in ihrer Not, keine klare
Abgrenzung ich/anderer, die nicht gleichzeitig bedrohlich wäre,
hinzubekommen, zu sexualisieren, und überfordert sich haltlos dabei. Der
Andere (Geliebte) der Hysterika hat seinen Weg zu finden als Adressat
sexueller Signale, aber einer präödipalen Übertragung kindlicher
Erregung. Oft hilft er ihr (Mann/Frau-Schema hier nur zur Vereinfachung)
durch seine Rage immerhin bei dem originären Ziel: der Abgrenzung. So
läuft es, und ich will hier einstweilen nur von dem Mut eines
Frankfurter Kollegen (Name gern auf Anfrage), auf einem
psychoanalytischem Frauenkongreß vor einigen Wochen als einziger
männlicher Referent das Podium zu betreten, und … zu Charlotte Roches
Feuchtgebieten zu referieren. Wenn ich ihn richtig verstanden habe,
wartet das Buch zumindest für die durch PR und Rezensionen sexualisiert
Interessierten mit einer Enttäuschung auf: worum es der Heldin – Helen,
glaube ich, geht, ist nicht die freizügige Exploration ihrer
weiblich-genitalen Innenwelt durch physisch akzeptable Männer, im
Gegenteil wird sie krank dabei, und ihr originärer Wunsch erscheint am
Ende des Buches erfüllt, „endlich mal einem Typen zu sagen, daß sie
eigentlich erst mal nicht mit ihm schlafen will". Muß ich das Buch
einmal selbst lesen, oder hat der Kollege wesentlich referiert?
Was zeigt das Bild, über das was es an Außenwelt repräsentiert, hinaus?
Damit spiele ich darauf an, daß ich das Blockintro nicht schließen mag,
ohne etwas zu dem Bild zu sagen, daß ich vorangestellt habe. Sie dürfen
mir gern schreiben, wo Sie denken, daß es aufgenommen wurde, und wer bis
zum Ende des Dezeniums am dichtesten dran ist, bekommt eine Ausgabe von
Freuds „Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten". Aber das berührt
die Außenwelt. Und bei dem Bild geht es mir auch darum, daß es den
Beginn eines psychoanalytischen Prozesses repräsentieren könnte. Und
damit will ich mich jetzt beschäftigen, wo in diesem Jahr so viele
analytische Beziehungen zu Ende gehen. Die Kargheit der Landschaft steht
für die Kargheit der gegenseitigen libidinösen Besetzung zwischen
Analytiker und Analysant. Und wenn Sie jetzt sagen, das verkennt doch,
was da von Anfang an in Gange ist an Idealisierungen, positiv wie
negativ (ein kluger, ein gutaussehender Therapeut, einer, der versteht,
ein ignoranter unsensibler, alter Sack// eine interessante, aufblühende,
sensible Patientin), will ich erwidern,
daß das alles noch zu sehr die Spuren der Verluste der beiden trägt, und
allzu sehr Züge von Eltern und Elternfiguren von Analysant und
Analytiker, um für den allmählich beginnenden Prozeß für bare Münze
gelten zu können. Die Analyse beginnt in der Regel im Herbst, und wir
Mitteleuropäer sind weit entfernt, in dieser Photographie eine
Todeslandschaft zu sehen, wissend, die folgenden Jahreszeiten bedecken
und beleben die Kargheit, die das Bild zeigt. Wir sind in unserem
bewußten Leben fern der Angst, vor der ewigen Nacht, „daß die Sonne
nich' mehr wiederkommt" (Udo Lindenberg) wie vor dem ewigen Spätherbst.
Und doch bleibt da die Frage, was wir da verloren haben, da, vorhin vor
der Tür, oder im letzten, nun wirklich vergangenen, Frühling. Beginnen
wir die Psychoanalyse, ehe die Verluste, ehe die Introjekte, uns allzu
bedrohlich zu puzzlen beginnen, ehe Fragmentierung droht.