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Sonntag, 19. Juni 2011

Near Misses in Cardial Surgery......

...liest eine Frau im Speisewagen des Zuges nach Budapest, die geradewegs
einem Roman von Kundera entsprungen sein könnte, Sonnenbrille, eine Bräune
aus einer Tube mit einer französischer Marke darauf, Blicke fangend. Christian,
den ich kurz nach meiner Abfahrt in Berlin kennengelernt habe - zunächst
widerwillig, da ich eigentlich noch schlafen wollte, dann aber immer interessierter an seiner ungarisch-deutschen Lebensgeschichte - zunächst eine Kleinstadt bei Debrecen, dann Halle/ Saale, dann Kleinstadt oder Dorf bei Perleberg. Sein Großvater war für eine (Kadar-kritischen?) politischen Witz, der eigentlich harmlos gewesen sein soll - Christian kann ihn nicht wiedergeben - zu 2 1/2 Jahren verurteilt worden, wovon er 1 1/2 abgesessen habe. Auf meine Nachfrage nach einer Rehabilitierung antwortet er, ja, er hätte in den 90ern einmal gut 8000 Euro bekommen. Aber die Kassation müsse doch auch darüber hinaus etwas bedeutet haben, insistiere ich, er, der Mann Mitte 30 - bestätigt es zögernd. Die in Dresden dazu gekommene Leipzigerin, die für ihr Alter sehr viel von ihren in der Tat wunderschönen Beinen zeigt, hakt hier ein: damals sei es der Apparat gewesen, und heute seien es die grosskapitalistischen Firmen, in denen man seiner Existenz beraubt werde. Hier protestiere ich laut - das sei doch nicht zu vergleichen, werde man heute bei Siemens herausgemobbt, könne man bei einer anderen Firma einen Einstieg versuchen - kein Vergleich zur Haft in Ungarn und der darauffolgenden Unzugänglichkeit von Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten.
Die Dame aus der Deutschen Bücherei reagiert mit einem Zugeständnis.
Eigentlich hält mich die abwechselnd zu dritt und zu zweit geführte Unterhaltung vom erneuten Lesen von Wolfgang Martin Roths Kommentar zur Nazareth-Platres-Konferenz ab, der er den Titel gegeben hatte "Der Schoß ist fruchtbar noch aus dem das kroch" - in English allerdings "The womb it crawled from is still going strong". Mehr und mehr bin ich über Kreuz mit der sich damit für mich verbindenden Phantasie - vielleicht ist es mir deshalb ganz recht, daß ich bis Breclav mit Beschlag belegt bin. Ehe ich noch zur Abteiltür - diesmal endgültig - hinaus bin, haben sich die mutmaßlich altgediente Femme fatale und Christian separiert, ich sehe Christian im Speisewagen ein vor Ort (!) geklopftes, paniertes und gebratenes Schnitzel verzehren. Später, auf dem Itzak-Rabin-Platz im Wiener 2. Bezirk, bestelle ich mir, weil der Anblick einen Rest von Hunger hinterlassen hatte, ein Zigeunerschnitzel, das ich mit Blick auf zwei fußballspielende Kinder restlos aufesse.
Aber W.M.R. mit Brechts Bild vom Schoß - was will uns das nahelegen - doch wohl nicht, daß bereits bei Geburt bereits kleine, hilflose, nationalsozialistische Babies geboren werden? Auch kriechen die Neugeborenen (noch) nicht, daher auch das Passiv bei den Verben - geboren werden, allein die Gebärende wird mit aktiven Verben benannt - gebären, zur Welt bringen, to deliver. Eine monströse Weiblichkeitsfigur, nur wenig abgeschwächt durch den sächlichen Genus "aus dem das kroch". Das erinnert an Freuds Kommentar zum Medusenhaupt, wo die Vielheit der Schlangen auch das Schreckenerregende zu mildern imstande ist.
Trägt also jede Athene, jede schöne Frau, ein Medusenhaupt im Gewand, wie die Mythologie nahelegen könnte? Und was könnte das für uns Freudianer bedeuten?
Freud verweist auf die Beziehung dieser Figur zur Kastration, man könnte
beinahe sagen, er reinterpretiert den Mythos als eine imaginäre Bildung des
Mannes angesichts seiner eigenen Kastration.
Wenn Freud schrieb, „Der Anblick des Medusenhauptes macht starr vor Schreck,
verwandelt den Beschauer in Stein. Diesselbe Abkunft aus dem Kastrationskomplex, derselbe Affektwandel! Denn das Starrwerden bedeutet die
Erektion, also in der ursprünglichen Situation den Trost des Beschauers. Er hat
noch einen Penis, versichert sich desselben durch sein Starrwerden.“ (GW XVII, S.47), müssen wir nicht an unser eigenes Erstarren angesichts des für einen
Moment maßlos erscheinenden Aggressionsausbruches, das WMR und ich
gemeinsam in einer Gruppe erlebten, denken, unser eigenes, nicht (ganz) von
Scham bedeckbares Unvermögen?
Diana Rosdolsky trägt in der Berggasse als dritte und zur Moral und Unmöglichkeit einer generellen Moralität vor, edle und grausame Dimensionen
seien einer unbedingten Relativität unterworfen. Briefe von Mitgliedern der
Einsatzkommandos sprächen von Taten, die "unsere Generation zu begehen nun einmal bestimmt sei". Edle Motive, in denen routinierte Grausamkeiten einen selbstverständlichen Platz einnehmen. Jonathan Littell hat versucht, die
Individualität eines von der griechische Antike zum Nationalsozialismus
Verführten angesichts der Wahrnehmung des Ausmaßes der Grausamkeit in einer (klugen und dabei doch eben auch "kitschigen") Romankonstruktion zu erfassen, man könnte formulieren, gegen die kollektive Massenhysterie ist das Subjekt beinahe alternativlos darauf verwiesen, eigene menschliche Regungen angesichts der Tötungen radikal zu individualisieren. "Du hast Fehler gemacht, jetzt bist du der Fehler", verdichtet Heiner Müller die Reaktion der im Führerkult aufgehobenen - wie vielleicht auch erstarrten - Masse. Der Rest - zumindest bei Littell, ist Psychosomatik und Masochismus.

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