Dieses Blog durchsuchen

Montag, 6. September 2010

Segeln mit Sarrazin - Der Andere und das Introjekt

Der Andere und das Introjekt.


Durs Grünbein schreibt über das Küssen, „es mißlingt immerfort, scheitert – grandios. Unmöglich, mit den Lippen ins Furchtzentrum vorzustoßen...“ (in der F.A.Z. vor einigen Tagen). Ja, das Küssen scheitert immer wieder, aber auch, weil es eine andere Vergeblichkeit wiederholt, das da, die erste Andere, m/other, wieder nachhaltig an- und einzusaugen, aber auch die untilgbaren – introjektiven – Spuren späterer Verluste.

Beim Spazieren mit einer sehr gemochten Bekannten neulich am Fluß, eigentlich bin ich schon in Eile, mich zu trennen, gehen wir an einem Schiff vorbei, das gerade Passagiere aufnimmt, und entschließen uns kurzerhand, mitzufahren, es fährt den gleichen Weg. Im alten Krankenhaus, einem meiner Lieblingsgebäude der unmittelbaren Umgebung, das wir passieren, ist sie geboren, wie ich an dieser Stelle erfahre. Sie bekommt auf diesem Schiff, wir sitzen beide auf dem Oberdeck, einen Anruf, erfährt vom Tod eines früheren Kollegen. Zwei Tage später soll noch jemand sterben, in einem Krankenhaus, das nur wenige hundert Meter entfernt ist, meine Kollegin B., ich erfahre es zunächst nicht. Beinahe zeitgleich stirbt Schlingensief, als mich die Nachricht von seinem Tod erreicht, breche zu meiner Überraschung in Tränen aus. Die Verabschiedung von meiner Spaziergängerin will nicht recht gelingen, wir zögern das Auseinandergehen auf dem Weg von der Anlegestelle immer wieder hinaus. Schließlich steigt sie in den Zug, der sie zu ihrem Vater bringen soll. Fast komme ich zu spät zu meiner Therapiestunde, die die erste von noch dreien an diesem Abend ist, die werden anstrengend – für meine Patienten – ich will Vitalität und insistiere darauf.

Frau H.'s sonst so eilfertiges Bedienpersonal, Kellnerin und Kellner, ignorieren mich heute, als ich nach der Segeltour eher pflichtschuldig als mit Appetit ein Bauernfrühstück bestellt habe – das heißt, das bekomme ich noch, ehe sich niemand mehr auf der Terasse, wo ich allein mit ein paar Wespen sitze, sehen lässt. Die Wespen können nicht richtig schwimmen, obwohl sie es in meiner Apfelschorle versuchen. Ich rette ihnen das, dennoch nur noch kurz währende, Leben. Ein interessantes Experiment, eine kleine Mutprobe, ich fuhr gestern mit dem Abendzug zum See, legte die Jolle noch in der Dämmerung ab, und versuchte, die mir bei Tageslicht wohlbekannte Insel nun im Dunkeln zu erreichen. Vor dem sanften Nordost, bemühte ich mich, so selten wie möglich mit meiner LED-Lampe voraus zu leuchten, da sich anschließend für Minuten völlige Dunkelheit einstellte. Jedes Mal, wenn ich leuchte, finde ich mich unheimlich nahe einer Schilfküste, und kann nur eilig anluven. Dann bin ich draussen aus der Bucht, öffne ein Bier, und nehme dann mit dem schon routinierten Erstaunen zu Kenntnis, daß kurz vorm Ziel der Wind plötzlich zunimmt. So passiere ich ein wenig zu schnell die Westküste von Mikado Island, wie die Insel heißt, seitdem ich einmal einen Nachmittag mit K. hier verbracht habe. Damals, in großer Hitze, fanden wir die mutmaßlich einzige Schilfbucht der Insel, und K. erfand, voller überschüssiger Energie, das Aquamikado. Hier sei nur soviel verraten – das geht mit Schilf ganz gut, hat aber andere Unwägbarkeiten als an Land. Jedenfalls bin ich zu schnell, um die ganz kleine Schilfeinfahrt – nun leuchte ich ständig – zu finden, oder besser, als ich einmal denke, sie zu erblicken, bin ich auch schon vorbei, und lege mich, zu müde, um zurück zu kreuzen, am ganz überwindigen Südufer ins Schilf. Erstaunliche Phantasien von einem slippenden Anker und einem treibenden Boot begleiten mein Einschlafen, ich wache jedoch in der Tat ganz unbewegt dort auf, wo ich eingeschlafen war. Während ich auf das Hotel von Frau H. zugehe, die Jolle schon wieder angelegt und vertäut, habe ich, darauf wollte ich hinaus, den ersten Moment von Bedauern angesichts dieser Tour – bin ich nun tatsächlich so geworden wie mein Onkel, der sich Wochenende für Wochenende zu nächtlichen Angeltouren entfernt und so eine unverfängliche Entschuldigung dafür gefunden hat, sich aus seiner Ehe gerade an den heiligen Abenden, den Samstagen, zu empfehlen? Dieses Moment scheint etwas mit der bevorstehenden Begegnung mit Frau H. zu tun zu haben, so, als käme mein Über-Ich wieder in Gang in der Anwesenheit dieser sich ihr anhaltendes Wohlwollen so mühsam abringenden älteren Frau und Wirtin. Ich ging zu diesem Bauernfrühstück im übrigen nur, weil ich den eigentlich angepeilten Zug verpasst hatte, in all meiner guten Laune beim Segeln vorher wollte ich zuviel an einer beschilften Landzunge, und fand mich auf Legerwall im Schilf wieder – der Wind drückte mich also weiter in dieses Schilf hinein. Da muß man sich freisegeln, und nachdem ich auf den guten Rat eines blassierten Vorbeiseglers das Schwert hochgenommen hatte, kam ich immerhin halb heraus, verwarf dann, immer mein grandioses Segelbuch repetierend, ins Wasser zu gehen, und landete doch wieder im Schilf. Statt aus diesem Buch weitere Lektionen durchzugehen, sprach ich kurzentschlossen ein unter Motor vorbei fahrendes Paar an - die eigentümlicherweise auf einer mastlosen Segelyacht unterwegs waren, und bat sie um etwas Schlepphilfe. Erst als sie begannen, eine freundliche kleine Runde zu fahren, sah ich, in welche Bedrängnis die überreichlich vorhandenen Seerosen ihre Schraube bringen könnte. Dafür wird die Leine, die ich auf Anhieb fange, auch angezogen, noch ehe ich sie richtig fest habe, und einmal mehr geht es beim Segeln darum, alle zehn Finger wieder heil an Land zu bringen. Auch mein unvollendeter Pahlstek zieht letzlich das leichte Boot heraus, und ich kann, mangels Energie, die Schleppleine nur noch ungeschickt ins Wasser gleiten lassen – Schraube, Leine, Seerosen somit wieder ihr Problem, um es im Stil von Wolf Haas zu sagen. Die sind aber auch zu zweit, denke ich zu meiner Entlastung, und in der Tat packen sie es ganz gut. Aber es geht, wie ich nun, Stunden später, weiß, um die Anderen, den Anderen, und darum, sie, wenn es Zeit wird, zu beladen.

Später im Zug, endlich, denke ich, schließlich war B. am Vortag beerdigt worden, ein Anfall von Traurigkeit, als ich eine Gleichgesinnte in einer älteren Frau mit weißen Kopfhörern zu erkennen meine, deren Platz ich belege, weil sie sich von ihrem Mann fort gesetzt hatte, um etwas mehr Raum zu haben. Raum deshalb, weil gegenüber von dem Platz, den nun ich einnehme, eine Frau sitzt, die etwa das Vierfache des Standardformates hat. Vor ihren Knien eingeklemmt, bin ich unfähig, meinen Oz weiterzulesen, während sie mit einem Organ zu ihrer körperlichen eine diskursive Gewalt hinzufügt. Das heißt, ich ahne nur, was sie da sagt, weil ich mir tatsächlich diese unerträglich leisen Iphonekopfhörer aufsetze und in meinen Musikdateien herumhöre, nicht ohne, daß mich Fetzen des überlauten Gespräches mit ihrer Nachbarin erreichen. Die Gewaltige und ihre zarte Begleiterin steigen schließlich aus, das Paar setzt sich wieder zusammen, und ich nehme diese weißen Hörer aus dem Ohr, um von ihrer Schweizer Herkunft, ihrer Begeisterung für die durchfahrene Landschaft, und der Tochter in der deutschen Großstadt, zu deren Besuch sie nun auf Umwegen reisen, zu hören. Natürlich ist sie irgendwie eine Kollegin, wir erkennen einander, und der smalltalk, der gelingt, schlägt schwer auf in mir. Dennoch bringe ich die Geschichte von K. und mir, die sich um das Brienzer Rothorn und somit in der Schweiz abspielte, in diesem Geplänkel unter und mache es so etwas weniger beiläufig. K. und ich haben dort unser Abschiedmenu gegessen, das dadurch, daß wir eigentlich eine Stunde vorher damit gar nicht gerechnet hatten, nur besser wurde. Zusammen essen, eine original Schweizer Gehörnte Bergziege – wie heißen die nur noch einmal, zum Nachtisch, dann eine finale Destination erreicht haben. Dem Berner Paar gegenüber gewann ich jedenfalls – so zart wurden sie zu mir – etwas zurück, was durch meine unrasierte und fleckenbehoste Erscheinung ganz fern schien.
Nun Theorie: Das Introjekt ist der erste Schatten, den das verlorene Objekt in das Ich wirft, und etwas von dem Verlust wird Introjekt bleiben, selbst wenn die Trauerarbeit gelingt. Das scheint so zu laufen, weil der Wiederholungszwang uns nahelegt, eine frühe, unerträgliche Deprivation eben zu wiederholen, anstatt auf erwachsenem Niveau zu reifen, zu elaborierten Ersatzobjekten überzugehen, oder eben diese reife Seite in denen, die uns nahe sind, zu würdigen. Ich muß an dieser Stelle ohne die mindeste Neigung zur Politik hervorheben, daß Thilo Sarrazin im achten Lebensjahr in ein Heim gegeben wurde, und gegenwärtig mit seinen Thesen in ihrer Unverdaulichkeit – eine derartige frühe Verlassenheit hervorruft und ausbadet. Man lasse sich bei der Popularität – heute sah ich ihn auf dem „Spiegel“-Titel – nicht über die damit verbundene lustvolle Kälte hinweg täuschen – es ist das radikal Andere, was die Kommentatoren in Sarrazin lustvoll isolieren und abspalten. Muß ich hier bemerken, daß ich den Sarrazinthesen wenig abgewinnen kann, und schon der Deskription mißtraue? Hier spricht jemand, der auf das Soziale zum Verzweifeln angewiesen ist, weil da an einem frühen Punkt in der Entwicklung zu wenig Mütterlichkeit war.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen